Wann hilft eine Zweitmeinung
oder: vom Umgang mit einer absurden Gerichtsentscheidung
Es ist wie bei der Zweitmeinung eines Arztes, die vor jedem größeren oder riskanten sicher zu empfehlen ist. Wer eine fundierte zweite Meinung wünscht, muss auch den Aufwand in Kauf nehmen, dass alle relevanten Daten neu geprüft werden.
Denn wie bei der ersten Beratung kann die weitere Beratung nur zu richtigen Ergebnissen führen, wenn der weitere Rechtsanwalt alle notwendigen Fakten kennt und in seinen Rat einbeziehen kann. Eine auf eine Schlüssigkeitsprüfung, also auf die reine, sekundäre Analyse des Erstgutachtens beschränkte Zweitmeinung hilft in aller Regel nicht weiter.
Als Negativbeispiel ist der konkrete Fall einer Zweitmeinung zu den Erfolgsaussichten eines Berufungsverfahrens anzuführen, der sich tatsächlich so ereignet hatte. Hier sah der weitere Rechtsanwalt offenbar nur grob das erstinstanzliche Urteil und die Schriftwechsel durch. Das Vernehmungsprotokoll für Zeugen prüfte er nicht gesondert nach den Inhalten.
Das erstinstanzliche Gericht hatte Widersprüche zu der Behauptung eines Schulderlasses in der Aussage eines wesentlichen Zeugen übersehen. Dies ergab sich auch aus dem Gutachten des Prozessvertreters in erster Instanz, der eine Berufung dringend empfahl. Die Betragsangaben des Zeugen ließen sich nicht mit der tatsächlichen Rechnungshöhe in Einklang bringen. Außerdem widersprach er bezüglich des logischen Ablaufs der Behauptung der Beklagten, sie habe auf den Erlass von 40% der geforderten Summe gedrängt. Der bei ihr beschäftigte Zeuge behauptete statt dessen, er habe sich zunächst mit dem Kläger auf den Erlass nur unverbindlich und rein mündlich geeinigt und dann bei dem Geschäftsführer um eine Genehmigung nachgesucht, die erst sechs Wochen später – wiederum mündlich – erteilt worden wäre.
Der Kläger habe damit auf 40% seiner Forderung, nicht weniger als 25.000,- Euro, ohne rechtlichen Anlass, nur wegen der Zahlungsverweigerung seiner beklagten Auftraggeberin, verzichtet. Der einzige Einwand der Beklagten lautete im Nachhinein: „zu teuer“. Dabei brauchte der Kläger nachweisbar die Geldmittel nicht dringend. Nachdem die Beklagte nur 60% seiner Forderung überwiesen hatte, mahnte er sofort und klagte auch ohne weiteres Zögern.
Die Beklagte bot im Prozess die vollständige Zahlung bei Kostenaufhebung an. Dies zeigt ihre Einschätzung der Erfolgsaussichten und Glaubhaftigkeit ihrer eigenen „Story“.
Den Vergleich lehnte der Kläger, der schon knapp kalkuliert hatte, aber wegen der klaren Erfolgsaussichten seiner Klage zurück.
Nach einem Richterwechsel und erkennbare fehlender Einarbeitung der nachfolgenden Richterin versuchte es die Beklagte mit einem noch schlechteren Angebot. Die Richterin hatte 50% der Forderung als Vergleich vorgeschlagen, weil sie, offensichtlich ohne jede Kenntnis des bisherigen Verfahrens, von Mängelrügen ausging. Solche waren aber nicht einmal angesprochen worden. Umso überraschter war sie, als die Beklagte mit ihrem Angebot deutlich darüber ging. Ihr Vorgänger hatte der Beklagten nach der Rechtslage erfolglos ein Anerkenntnis gegen Zinserlass nahe gelegt.
Die erhebliche logische und zeitliche Abweichung überging das Gericht erster Instanz, obwohl sich schon die Behauptung eines Forderungsverzichts um 40% ohne Rechtsgrund mehr nach Science-Fiction als nach zurechnungsfähigen Kaufleuten anhört. Es wies die Klage wegen eines angeblich nachgewiesenen Erlassvertrags ab.
Der mit dem zweitgutachten beauftragte Rechtsanwalt sah dennoch erhebliche Risiken für die Berufung, weil der Kläger den gut gemeinten Vergleichsvorschlag des Gerichts (50%) abgelehnt hatte. Das Gericht wäre darüber erkennbar so erbost gewesen, dass es die Klage abgewiesen hatte. Zudem wäre das erstinstanzliche Gericht in der Bewertung der Aussage des genannten Zeugen frei und könne ihm Glauben. Dies könne das Berufungsgericht nicht mehr revidieren.
Diese Darlegungen sind ohne Ausfälligkeiten zu ihrer Qualität kaum zu kommentieren, aber tatsächlich echt. Der Mandant war sichtlich verwirrt und fand in der Stellungnahme keinerlei Aufklärung. Sie stammte allerdings auch von einem Rechtsanwalt, der keine heutzutage vorauszusetzende Ausbildung für eine Rechtsanwaltszulassung absolviert hat, sondern ein Studium an einer nach Karl-Marx benannten Hochschule früherer Zeit. Auch so etwas gibt es.
Hier war der Mandant allerdings bei der Auswahl der Zweitmeinung durchaus nicht hilflos. Ein Blick in den veröffentlichten Lebenslauf hätte über die Qualifikation Klarheit verschafft. Auch Lehrgänge im allgemeinen Zivil- und Zivilprozessrecht, die Kenntnislücken ergänzen könnten, waren nicht ausgewiesen.
Es ist eben doch wie bei allen Dienstleistern: Neutrale Bewertungen mit geprüfter Authentizität sind immer noch der aussagekräftigste Maßstab für Beratungsqualität.
Die vorausgesagten Probleme bei der Berufung gab es natürlich nicht. Wohl mit nachvollziehbarem Erschrecken hat das Oberlandesgericht in (für eine Berufung) kürzester Zeit terminiert und die in erster Instanz daneben gegangene Beweisaufnahme sofort selbst wiederholt.